Veröffentlicht am

Bin ich nicht systemrelevant? – Ein Gedanke

Relevant?

Seit die Corona-Pandemie unser aller Leben auf den Kopf gestellt hat, müssen alltägliche Aufgaben, Abläufe und Handlungen neu organisiert werden. Viel davon wird durch weitreichende, einschneidende, aber notwendige Verordnungen wie dem Lockdown geregelt, damit die Ausbreitung des Sars-Cov2-Virus begrenzt wird. Einige Lebensbereiche werden beschränkt, damit sich weniger Menschen infizieren können. Nur noch wesentliche, also relevante Tätigkeiten sollen ausgeführt werden.

So kam der ursprünglich aus dem Bankrecht stammende Rechtsbegriff „Systemrelevanz“ ins Spiel, der in der aktuellen Pandemiesituation auch diejenigen Berufe beschreibt, die unsere Gesellschaft grundlegend am Laufen halten und die dadurch schützenswert sind.

Viele Menschen üben Berufe aus, die die Versorgung von Patienten in Krankenhäusern sichern. Oder die der Betreuung von älteren Menschen dienen. Oder die Kindern im Lockdown Wissen vermitteln. Oder die Lebensmittel produzieren oder transportieren. Oder oder oder. Eine große Verantwortung liegt bei ihnen: „Du machst etwas, das dafür sorgt, dass unser Gemeinwesen funktioniert, du bist systemrelevant.“

Keine Frage, dass das stimmt und dass jede:r einzelne in solchen Berufen einen Orden (oder Gehaltserhöhung oder festen Arbeitsvertrag) verdient hat. Aber was ist, wenn man nun einmal nicht zu diesen Berufsgruppen gehört? Weil man etwas anderes studiert, anderes gelernt hat. Wenn man etwas macht, das der Unterhaltung dient, dem Wohlfühlen, der Anfertigung mit schlichtweg Freude bringenden Gegenständen, der ausschließlich geistigen Bereicherung, der kreativen Weiterentwicklung? Wie geht es jemandem, die/der von außen nicht als „systemrelevant“ eingestuft wird?

Wo stehe ich?

Den Begriff „systemrelevant“ löse ich in diesem Artikel aus seinem ursprünglichen und erweiterten Kontext bewusst heraus und betrachte ihn als Wort eher aus einem „psychologischen“, mentalen Gesichtspunkt heraus. Ich selbst habe den Begriff oft im Freundeskreis und auch in vielen Nachrichtensendungen gehört, bis ich mich selbst versuchte in diesem Begriff wiederzufinden. Was nicht so einfach ist, wenn man recherchiert, was und wer offiziell mit „systemrelevant“ gemeint sein könnte.

Faunauge ist ein Atelier für schöne Dinge, die man nicht zum Überleben braucht. Bevor es Faunauge gab, habe ich viel am Theater gearbeitet. Das braucht man laut einigen Meinungen auch nicht zum Überleben. Natürlich sehe ich ein, meinen Laden zu schließen oder den Spielbetrieb für eine gewissen Zeit zu unterbrechen, wenn es dazu dient, die Pandemie einzudämmen.

Als ich im ersten Lockdown das Ladenatelier schließen musste, durften Kund:innen laut Verordnung des Landes Sachsen ihre bestellten Waren vor dem Laden abholen. Ich habe einen kleinen Korb an einen langen Stock gebunden und die Bestellung im Korb zur Tür herausgereicht. Diese Erfindung führte immer zu einem Lachen. Und sie hat funktioniert. Kontaktlos, mit Abstand, mit Konzept. Der Andrang in kleinen Ateliers hält sich ohnehin naturgemäß in Grenzen. Da sind Abstände stets übersichtlich und gut einzuhalten oder im Zweifel zu kommunizieren. Trotz der Unsicherheiten „wohin die Pandemiesituation alles führen solle“, haben alle Besucher:innen immer liebe Wünsche geäußert, oft ins Atelier gewunken, die Laune war noch nicht im Keller und die Menschen erfreuten sich noch an schönen Dingen. Und mein Ladenatelier hat überlebt. Da habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, was es heißt, „relevant“ zu sein.

Der zweite Lockdown ab dem 3. Advent war jedoch nun ganz anderer Natur. Denn die Möglichkeit, Bestellungen vor dem Laden abzuholen, wurde im Bundesland Sachsen untersagt. Bestellte Speisen darf man als Kund:in abholen, eine neue Mütze nicht. Diese darf ich als Faunauge nur liefern (oder per Post schicken), d.h. von Tür zu Tür laufen und Aerosole von einem Treppenhaus zum nächsten verteilen. Das kann ich oft auch Kund:innen vor dem Laden nicht begreiflich machen. Ein Beispiel: kürzlich wollte ein Kunde eine Kappe vor dem Laden kaufen. Ich sagte ihm, dass ich sie dort nicht verkaufen dürfte, er solle sie per Telefon o.ä. bestellen, ich liefere sie. Im Laden probieren ginge erst nach dem Lockdown wieder. Seine Antwort: „Dann ist aber nicht mehr Winter, da brauche ich die nicht mehr.“ Was meinst du, geneigte:r Leser:in, hat er die Kappe zur Anprobe nach hause bestellt?1

Viele Betriebe und Anbieter müssen ihre Dienstleistung weniger folgenschwer einschränken, obwohl sie zur Erhaltung des funktionierenden Gemeinwesens meiner Meinung nach ebensowenig hoch eingestuft werden sollten wie bspw. Händler, Läden und Theaterschaffende. Warum lassen wir jetzt bspw. eine riesige Automobilproduktion laufen oder warum dürfen manche unbedingt jetzt gemeinsam im Flugzeug sitzend 4000 km zum nächsten Strand fliegen?2 Oder warum hatten größere Betriebe so lange die Möglichkeit, ungeprüft kein Homeoffice anzubieten? Ein Strafgeld für trotz Lockdown geöffnete Geschäfte und Gastronomie war schnell festgelegt, jedoch blieb es sehr lange bei einer schlichten Empfehlung für Homeoffice.

Warum müssen sich nicht alle weniger Systemrelevanten gleich einschränken? Sind etwa manche Irrelevanten irrelevanter als andere Irrelevanten?

Heißt das – wenn ich den Begriff der Systemrelevanz weiterhin in seine Einzelteile zerlegt und aus der Rechtsbegrifflichkeit herausgelöst, also eher „psychologisch“ betrachte – dass meine Tätigkeit, mein Ich immer als irrelevanter als das von anderen betrachtet wird? Wenn man nun alle von der vermeintlichen Irrelevanz Betroffenen in der Bundesrepublik Deutschland zusammenzählt, dürfte man auf eine ziemlich beachtliche Summe kommen. Und wenn es doch so viele sind, die ebenso in ihrer Vielzahl einen erheblichen Teil zum Bruttoinlandsprodukt beitragen, sind wir dann in Gemeinschaft immer noch als irrelevant betrachtbar? Und warum messe selbst ich an dieser Stelle Relevanz am Geld? Ganz einfach: denn ich kann kaum Hilfen beantragen. Ich bin nicht too big too fail. Zudem kam der Lockdown für Läden so ungünstig, dass mich die Dezemberhilfen laut Antragsbedingung zeitlich nicht viel betreffen, ich aber trotzdem große Einnahmenverluste habe. Aufgrund meiner Arbeitsweise eines selbstproduzierenden Ateliers halten sich meine Ausgaben aktuell zum Glück in Grenzen, aber wie geht es anderen alternativen Läden, die in eine Abfolge von Vor-Order und saisonalen Abverkauf integriert sind?

Es ist auch keinem dieser Läden oder Ateliers vorzuwerfen, sie hätten den Umstieg zum Onlinehandel während der Pandemie verschlafen. Viele betreiben seit Jahren im Internet ebenfalls alternative Webseiten mit implementierten Onlineshops und bieten absichtlich keinen Verkauf über einschlägig bekannte big player an. Die aktuell massiv gesteigerte Logistik hinter dem unabhängigen Onlineversand ist die Herausforderung, nicht der Wille dazu.

Relevant!

Während ich in meinem Laden sitze und diesen Text verfasse, ist die Tür verschlossen. Lockdown. Und es bleiben Passanten heute so häufig wie noch nie abrupt stehen und fangen an zu lächeln. Sie wären traurig, wenn ich nicht mehr da wäre, denn dann würden sie nicht spontan lächeln. Die Menschen schätzen unsere kleinen Läden und Ateliers, weil wir eine besondere Art der Kund:innenbetreuung anbieten, die Beratung individueller gestalten und fernab der Massenproduktion hochwertige und einzigartige Produkte anbieten können. Für sie sind wir relevant, zwar nicht zum Überleben wichtig, aber relevant. Sie sind traurig, wenn wir nicht da sind. Dasselbe gilt für bspw. Kunst- und Kulturschaffende. Wer bitte kann sich ernsthaft ein Leben ohne Spiel, Filme, Konzerte, Clubs, Hörbücher, Musik, Kinderbücher, Radio (ja ok, Spotify meinetwegen), Schmuck oder Kostüme vorstellen?

Jahrhunderte lang haben Kulturschaffende dafür gekämpft, in der Gesellschaft, im System anerkannt, relevant zu sein. Auch die Arbeit der Grille im Sommer ist Arbeit. Nicht nur die der Ameise.3 Ich möchte nicht behaupten, dass politische Entscheidungen aufgrund mangelnder Akzeptanz oder Bewunderung gegenüber Kunst, Kultur, Design etc. getroffen werden. Ich weise nur auf die Gefahr hin, dass wir im Auge der Gesellschaft wieder an Relevanz verlieren könnten. Denn wenn man immer wieder damit konfrontiert wird, dass man nicht zur „systemrelevanten“ Bevölkerung zählt, wird dieses Problem manifest. Bei den Relevanten und bei den Irrelevanten.

Denn es fühlt sich langsam nicht mehr gut an, sich jeden Tag zu fragen, ob ich relevant bin oder bedeutender noch, wer meine Relevanz bestimmt. , „Es ist ja schön, dass ihr da seid, aber eigentlich braucht euch keiner.“ Wir und das BIP werden euch daran erinnern, wenn wir weg sind.4

1 Natürlich nicht.
2 Dass die Reiseindustrie aktuell durch Corona schwer getroffen ist, will ich dabei in keinster Weise in Frage stellen. Ich suche die Möglichkeit, meine persönliche Relevanz zu verorten.
3 „Die Grille und die Ameise“, eine Fabel von Jean de La Fontaine, 17. Jahrhundert
4 Bis dahin kämpfen wir weiter!

© Romy Marienfeld
Foto: KAOS Leipzig

Zum Weiterlesen: Interview von Tobias Prüwer zum Thema, dass Leipziger Händler:innen am Lockdown verzweifeln (Kreuzer Leipzig)